„Die unumehrbare Richtung der Zeit“
Exposee` zu „Die unumkehrbare Richtung der Zeit“ (Video, 60 min)
Der Film ist ein Zusammenschnitt von Sequenzen, in denen verschiedene Personen, die während der Zugfahrt aus dem Fenster schauen, gezeigt werden. Die einzelnen Sequenzen sind unterschiedlich lang. Die Abfolge wirkt beim ersten Schauen zufällig ist aber – unter Berücksichtigung der vermittelnden Übergänge und der jeweiligen Stimmungen – genau auf einander abgestimmt und auch die Dauer der einzelnen Sequenzen (von kurz bis sehr lang) hat kompositorische Bewandtnis. Anfang und Ende des Films sind klar herausgearbeitet und aufeinander bezogen. Zu Beginn des Films sieht man einen schwarzen Bildschirm und hört den Pfeifton, der die Abfahrt des Zuges ankündigt. Mit dem Knall der zufallenden Türen erscheint das Bild. Die erste Sequenz zeigt eine Frau im mittleren Alter, die mit sorgenvollem Blick nach draußen schaut. Man wähnt deutlich eine innere Auseinandersetzung vor Augen zu haben. Sie schaut zwar nach draußen aber ihr eigentlicher Blick ist nach innen gerichtet. Es ist eine Momentaufnahme in der, wie es scheint, eine zeitlich vorausgegangener Moment reflektiert und verarbeitet wird. Der Zug kommt in Bewegung und die schattenhafte Landschaft zieht am Fenster vorüber. Das Unwiederholbare dieses flüchtigen Augenblicks wird hier exemplarisch eingefangen, analog zu der Anstrengung der Frau ihre Erinnerung einzufangen. Zu sehen und dennoch unsichtbar ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Der Film thematisiert so die spontane Anschauung eines bestimmten Augenblicks der für den Zuschauer jedoch letztlich unsichtbar bleibt.
Bildaufbau:
Die Kameraeinstellung ist statisch, gezeigt wird immer der gleiche Bildausschnitt. Der Bildausschnitt ist zweigeteilt. Auf der linken, dunklen Seite sitzt immer die Person, die den Blick nach vorn (rechts) in den hellen Bildteil (zum Fenster) gerichtet hat. Im Bildvordergrund sitzt die Person, Fenster und Zugwand bilden die Grenze zum Bildhintergrund. Der meist, durch die Geschwindigkeit verzerrte, unscharfe und helle Hintergrund hebt sich auch durch die Rahmung des Fensters in einem starken Kontrast zum gedämpften Vordergrund ab. Nur in Momenten äußerer Dunkelheit, wenn die Landschaft nah heranrückt oder ein vorbeifahrender Zug die Sicht verhindert verschmilzt das Bild von Innen und Außen und die Person wird in der verdunkelten Scheibe reflektiert. Auf diese Art entsteht kompositorisch ein Spannungsfeld zwischen Innen und Außen, hell und dunkel, nah und fern, ruhig und bewegt, deutlich und undeutlich – statisch und rasend schnell. Durch den Fokus auf die Gesichtszüge der Dargestellten wirkt der Blickwinkel einerseits sehr intim, durch den Kontext des öffentlichen Raumes anderseits aber auch profan. Auch hierdurch entsteht eine Spannung. Man fühlt sich den Portraitierten verbunden und doch unnahbar fremd, da sie entrückt und in sich gekehrt erscheinen. In dieser Spannung, die eine Leerstelle für den Betrachter eröffnet, entfalten sich Möglichkeiten für die Rezeption des Films.
Assoziation zum Werk:
Zum Abschluss möchte ich noch einige von meinen persönlichen Assoziationen und Fragen zum Film anfügen. Ich wähle hierfür ganz bewusst eine offene und fragmentarische Form, da der Film ja gerade durch seine Offenheit und assoziativen Spielräume lebt, die ich an dieser Stelle nicht durch vorgegebene Interpretationsmuster verbauen möchte.
– Was spiegelt sich in den Gesichtern der Passagiere? Das Springen zwischen Außen- und Innenschau? … seelische Prozesse, das Sehen an sich, emotionale Konflikte, das Unwohlsein, das durch die Beobachtung entsteht, Nach-Denken, etc.? Der Spielraum der erlebbaren Facetten ist unermesslich und subjektiv vorgeprägt.
– Wieso lädt gerade die Zugfahrt zum Träumen und zur Innenschau ein? Was fasziniert mich daran? Ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass die Zugfahrt eine Reihe von Spannungsfeldern auftut (vgl. Bildaufbau), zwischen denen sich ein Freiraum für psychische Prozesse auftut: Die Spannung zwischen hoher Geschwindigkeit und Stillsitzen, zwischen Innen und Außen, zwischen Kalt (Haptik des Zugfensters) und Warm, zwischen starrem und bewegtem Sehfeld, etc. Diese erlebte Ambivalenz erschließt, soweit ich es sehen kann, einen Übergang zwischen dem eigenen Innen und Außen und verleitet so zu dosierter Bewusstseinsverschiebung.
– Je öfter ich den Film sehe, desto mehr erscheinen mir die gezeigten Personen Facetten und Rollen meines eigenen Wesens zu sein, die sich stetig abwechseln und von denen ich am Anfang schon gesprochen habe. Denn genau diese Facetten sind es ja, die die Fahrt jedes Mal zu etwas anderem gemacht haben. So könnte man den Film auch als ein großes Selbstporträt lesen, in dem ich meine eigenen inneren Erfahrungen und Rollenwechsel während des Reisens anschaulich mache.
– Hieran schließt sich die Überlegung an, dass die Reise an sich eine Metapher für das Leben zwischen Geburt und Tod ist und die einzelnen Passagiere Aspekte dieses Lebens sein könnten (versch. Begegnungen, Facetten bzw. Veränderungen des eigenen Wesens, versch. Alters- oder Bewusstseinsstufen, etc.). Im Rahmen des Selbstporträtmotivs wäre hiermit also auch eine zeitliche Komponente in die Selbstdarstellung eingebracht, die das Ganze mit der Einfahrt des Zuges beginnen und mit der Ausfahrt enden lässt. Die alte Dame, die am Schluss des Films akkurat ihre Sachen ordnet, sich strafft und dann dem vorbeilaufenden Schatten (!) folgt, um den Zug zu verlassen setzt diesbezüglich einen starken Akzent und macht den Erzählstrang sichtbar.
A. Stiller: „Die unumehrbare Richtung der Zeit“… oder die ewige Wiederkehr des Immergleichen?
Die 60-minütige Videoarbeit „Die unumkehrbare Richtung der Zeit“ von Julia Heinemann zeigt verschiedene Zugreisende in portraitähnlichen close-ups, in sich versunken, aus dem Zugfenster schauend. Irgend- und nirgendwo zwischen zwei Orten, sich im Übergang befindend, scheinen auch die Gedanken der Portraitierten irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft unverortet. Menschen im Dazwischen – bei sich – authentisch. Dann eine Zugansage, ein Umherschauen, ein Blick in die Kamera – kurze Momente der Vergegenwärtigung, des Hier und Jetzt, die den zeitlosen, meditativen Fluß der Gedanken und des Filmes unterbrechen.